Der Lebenswert

Wie viel muss man verlieren, um nicht mehr leben zu wollen? Ich habe viele Berichte von Menschen studiert, die entweder einen geliebten Menschen durch die Suizidhandlung verloren haben oder selbst versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Eine meiner Beobachtungen finde ich erwähnenswert, nämlich, dass jeder Mensch seine eigenen Kriterien hat, anhand derer er oder sie das Leben als lebenswert empfindet – oder eben nicht mehr. Dietrich Bonhoeffer hat diese Frage ähnlich erfahren und theologisch interpretiert.

Gott will laut Bonhoeffer, dass die Menschen glücklich sind, sie haben ein „Recht auf Glück“. Man soll im Leben nicht darben, sondern seine Fülle genießen. Es ist erlaubt, einfach glücklich zu sein (1). Wenn man einen reichlich gedeckten Tisch, eine hübsche Frau hat und die Kinder wohlgeraten sind, kann man das leicht glauben. Aber dann zerreißt dieses Bild und genau die höllischste Katastrophe bricht über einen hinein, die man sich in nächtlichen Sorgen ausgemalt hat. Genau diese Sorgen, die man als unbegründet beiseite wischen wollte, werden wahr. Ein Alptraum wird wahr: „Mein Leben zerfällt, stürzt ins Bodenlose, Gott, mir wird angst.“ (DBW 11,377). Bonhoeffer hat eine solche Krisensituation am Anfang seiner Gefangenschaft in Tegel (1943-1944) durchstehen müssen. Durch diesen Einschnitt in sein Leben fühlte er sich von Gott selbst getrennt (2) und aller Hoffnung beraubt: „Selbstmord nicht aus Schuldbewusstsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin, Schlußstrich, Fazit.“ (DBW 8,64).
Es lohnt, sich selbst diese theoretische Frage zu stellen: Woran hängt mein Herz so sehr, dass ich nicht verkraften würde, ohne es zu leben? Manch einer empfindet seine Kinder als die Erfüllung seines Lebens, ein anderer kann sich nicht vorstellen ohne seiner Liebesbeziehung weiter zu existieren. Ein anderer wiederum empfindet die Kündigung seiner Arbeitsstellung als fundamentale Existenzbedrohung. Durch den Beruf entfällt seine Lebensaufgabe und mit ihr die Lebenslust.

Es gibt so viele Gründe für den Suizid wie Suizidanten. Es lässt sich nicht sagen, welche Gründe davon legitim sind und welche aber nicht. Es gibt keinen Gradmesser für Leid, sodass man objektiv sagen ķönnte, wann der Suizid erlaubt ist. Viele Erfahrungen auf diesem Erdball tun sehr weh, daran lässt sich nichts beschönigen. Leiden ist subjektiv, aber real. Jeder Wunsch, sterben zu wollen, muss also ernst genommen werden, auch wenn das jeweilige Motiv manch einem Außenstehenden trivial erscheint.

Nach einer Adaptionsphase hinter den Gefängnismauern, hat Bonhoeffer via Briefe Kontakt mit seinen Angehörigen in Freiheit aufgenommen. Die Kontinuität der zwischenmenschlichen Beziehungen spüren zu können gab ihm neue Kraft (3). Ich sage jetzt einmal ganz pauschal: Wenn ein Lebensinhalt wegfällt, kann ein neuer, ein tieferer Sinn gefunden werden. Suizidgedanken interpretiere ich also – theologisch oder nicht – folgendermaßen: Es ist ein Schürfen nach einem Sinn, der so tief und stark ist, dass er einen trotzdem weiterleben lässt. Ebenso wie das vorangegangene Leiden ist dieser Sinn höchst individuell und nur von der jeweiligen Person selbst zu erschließen.
Zum Beispiel ist es sicherlich eine lebenslange Aufgabe, einen Weg mit der Trauer nach dem Tod eines Kindes zu finden. Den Sinn könnte man vielleicht (!) darin sehen, andere Menschen im Trauerprozess mit den eigene Erfahrungen und Einsichten zu unterstützen.
Letztendlich ist meine Behauptung, dass man in allen Lebenslagen einen Sinn finden kann, der einen weiterleben lässt, auch ein Glaube. Ich kann und will diesen Glauben von niemanden fordern, der traurig und verzweifelt ist. Ebenso wenig lässt natürlich auch beweisen, dass es Lebensmomente gibt, die jeglicher Sinnhaftigkeit entbehren und die Sinnsuche von vornerein aussichtslos ist. Auch zu glauben, dass es keinen Sinn gibt, ist ein Glaube.
Bonhoeffer neu entedeckter Sinn ist wohl bekannt. Durch ihn ließ er sich zu Gott zurückführen: „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ (DBW 8, 30).

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(1) „Aber wir stehen eben nicht bei Kant, sondern bei der heiligen Schrift; und gerade darum muß zuerst von den Rechte des natürlichen Lebens gesprochen werden, das heißt von dem, was dem Leben gegeben st und dann von dem, was von ihm gefordert wird […] Gott gibt, bevor er fordert“ (DBW 6, 173)

„Das ursprünglichste Recht des natürlichen Lebens ist die Bewahrung des Leibes vor beabsichtigter Schädigung, Vergewaltigung und Tötung. Im Gegensatz zum Tier, sind bei dem Menschen Wohnung, Essen und Kleidung (…) auf Genuß angelegt nicht auf ein „zweckmäßiges Minimum“.“ (DBW 6, 173)

(2) „Trennung von Menschen, von der Arbeit, von der Vergangenheit, von der Zukunft, von der Ehe, von Gott.“ (DBW 8, 60 f.)

(3) „Bonhoeffers Lebenselixier in Tegel wurden die Briefe.“ (Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse. 3. Auflage. München 1970, S.940.)

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